Geflüchtet, minderjährig – und allein gelassen?

UMF in der Grundversorgung

Die Regelung der Grundversorgung vor 20 Jahren war ein Meilenstein in der Versorgung von Asylwerber:innen. Unbegleitete Kinder und Jugendliche (UMF) auf der Flucht sind eine besonders vulnerable Gruppe, für die nach UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) besondere Schutzpflichten und Rechte gelten[1]. Vieles hat sich in den letzten 20 Jahren getan, doch in der aktuellen Situation werden unbegleitete geflüchtete Kinder in Österreich weder bestmöglich geschützt noch betreut.

Problembewusstsein gibt es in Österreich dafür keines.

Was bedeutet UMF?

Als minderjährige unbegleitete Flüchtlinge gelten Geflüchtete bis zum Erreichen der Volljährigkeit, wenn sie sich ohne Begleitung der Eltern oder einer sonst für sie nach dem Gesetz verantwortlichen Person in Österreich aufhalten.

Man unterscheidet zwischen unmündigen unbegleiteten Geflüchteten, also Kindern unter 14 Jahren und mündigen unbegleiteten Geflüchtete, Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren.

Unterbringung und Betreuung von Kindern in Einrichtungen in Österreich richten sich grundsätzlich nach dem Kinder- und Jugendhilferecht. Anders als z.B. in Deutschland, wo UMF von Beginn an unter Obhut des Jugendamts stehen, ist die Unterbringung, Versorgung und Betreuung von minderjährigen Asylsuchenden in Österreich (so wie bei Erwachsenen) in der Grundversorgung vorgesehen. Während des Zulassungsverfahrens obliegt die Grundversorgung der minderjährigen Asylsuchenden dem Bund.

Grundversorgung ist als Hilfe für die erste Zeit gedacht, um die dringendsten Bedürfnisse wie Unterkunft, Essen/Trinken und medizinische Versorgung zu gewährleisten, aber eben nur für kurze Zeit, bis die jugendlichen Asylwerber:innen zum Verfahren zugelassen sind. Gerade bei Jugendlichen aber ist es notwendig so schnell wie möglich altersadäquate Unterkünfte zu finden, Clearings bzgl. Schule und Ausbildung zu machen, ev. nötige psychologische Unterstützung zu gewähren und den Jugendlichen rasch in strukturierter Umgebung Zukunftschancen zu eröffnen.  

Doch genau das passiert nicht, und damit sind wir bei den großen Problemen im Bereich UMF in der Grundversorgung:

  • Fehlende Obsorge für UMF in den Bundesbetreuungseinrichtungen (BBE)
  • zu geringe Tagsätze für Quartiergeber in Landesbetreuung
  • zu langer Aufenthaltsdauer in den BBEs.

Keine Obsorge, niemand kümmert sich

Geflüchtet, minderjährig und keiner ist zuständig.

Wer kümmert sich um die Erziehung der Jugendlichen? Wer sorgt dafür, dass sie eine Schule besuchen können? Wer begleitet sie zum Arzt, entscheidet zb. im Falle einer Operation? Wer vertritt sie rechtlich (abseits des Asylverfahrens)? Eigentlich sollte wie bei österreichischen Kindern jemand Obsorge-berechtigt sein, doch für jene Minderjährige, die in Österreich als Geflüchtete ankommen, ist zunächst niemand zuständig, solange sie in Bundesbetreuungseinrichtungen (BBE) leben. Das bekannteste Quartier ist Traiskirchen, dort leben auch allein geflüchtete Kinder unter 14 Jahren. Ein Massenquartier ohne entsprechende Infrastruktur ist sicher nicht die geeignete Umgebung für oft traumatisierte Kinder und Jugendliche. BBEs haben auch keinen Erziehungs-und Pflegeauftrag und übernehmen nur die rechtliche Betreuung im Asylverfahren.

Ein Koalitionsabkommen zur Obsorge ab Tag 1 liegt seit Jahren bereit, umgesetzt wurde es nicht, die Bundesländer legen sich quer. Warum, was ist da los?

Vorgesehen ist, dass die UMF von den Bundesländern in geeignete Quartieren übernommen werden, sobald sie zum Asylverfahren zugelassen sind, also nach kurzer Zeit. In der Landesbetreuung wird die Obsorge beantragt, denn Kinder-und Jugendhilfe ist Ländersache.

Ungenügende Tagsätze

Derzeit gibt es zu wenige Plätze in den Betreuungseinrichtungen der Bundesländer. Denn die dafür von der Bundesregierung bereitgestellten Mittel sind viel zu niedrig. Dadurch weigern sich die Bundesländer, die Verantwortung für diese Kinder zu übernehmen, und stellen zu wenig Quartiere zur Verfügung.

Anfang 2024 wurde das zwischen Stadt Wien und BMI ausgehandelte transparente Realkostenmodellals Pilotprojekt gestartet. Mit dem Realkostenmodell werden die tatsächlich anfallenden Kosten in der Unterbringung abgerechnet, nicht wie bisher über einen gedeckelten Tagsatz/Pauschalbetrag.

Auch in NÖ scheint sich eine Lösung anzubahnen und der Tagsatz von bisher 95€ endlich an Inflation und Teuerung angepasst zu werden.

Zum Vergleich: Kinder, die im Zuge der Kinder- und Jugendhilfe fremduntergebracht werden, haben einen ähnlichen Betreuungsbedarf wie unbegleitete Flüchtlingskinder. Die Tagsätze sind zwar auch in diesem Bereich von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, aber durch die Bank weit höher. In Niederösterreich sind es beispielsweise ab ca. € 200,- pro Tag, im Vergleich zu € 95,- für Flüchtlingskinder. Auf der Strecke bleiben die geflüchtete Jugendliche und Kinder, die in Österreich nicht bestmöglich betreut und geschützt sind.

Die Erhöhung der Tagsätze ist also längst überfällig.

„Remuneranten Eltern“ statt Obsorge

Anstatt den Kindern eine Obsorge berechtigte Person zur Seite zu stellen, werden von der Bezirksbehörde sogenannte „Remuneranten-Eltern“, die im Lager Traiskirchen wohnen, beauftragt, sich für 2,50 Euro pro Stunde um die Kinder unter 14 Jahren zu kümmern. Diese „Remu-Eltern“ sind erwachsene Asylwerber:innen, die meist selbst unter traumatischen Fluchterfahrungen leiden und jeden Tag in eine andere Unterkunft verlegt werden können.

„Was die Kinder eigentlich brauchen würden, ist Stabilität, denn für sie ist jeder weitere Beziehungsabbruch eine weitere schwere psychische Belastung. Es gibt keine rechtliche und auch sonst keine vernünftige Erklärung warum unmündige Kinder nicht automatisch und vom ersten Tag in die Obhut der Kinder und Jugendhilfe genommen werden“, so Elisabeth Schaffelhofer-Garcia Marquez vom Netzwerk Kinderrechte.

Für jugendliche Geflüchtete wird das Betreuungspersonal von der BBU gestellt. Darunter sind Bezugsbetreuer:innen, die den Jugendlichen als Bezugspersonen beistehen können. Sie vertreten die UMF aber weder rechtlich, noch sind sie für Erziehung und Pflege zuständig. Es gibt keine:n Obsorge-Berechtigte:n, die mündigen Fluchtwaisen, also 14-17 Jährige, sind weitgehend auf sich allein gestellt. In der Praxis sind die Jugendlichen oft monatelang in einer der Bundebetreuungseinrichtung untergebracht, wo sie keinen Zugang zu kindgerechter Betreuung, Information und Bildung erhalten.

Verschwundene Kinder

Fast 12.000 Kinder und Jugendliche, die in Österreich einen Asylantrag stellten, verschwanden in 2022. Eine unfassbare Zahl. Man stelle sich vor, eine Stadt wie Lienz wäre plötzlich menschenleer, alle Einwohner verschwunden. Wo bleibt bei 12.000 verschwunden Flüchtlingskindern der Aufschrei?

Bei unter 14 Jährigen muss eine Vermisstenanzeige bei der Polizei gemacht werden, bei allen anderen Jugendlichen wird lediglich eine Meldung an die zuständige BH gemacht. Weiter passiert nichts, niemand fragte nach, niemand kümmert ernsthaft wo sie sind, ob sie noch leben. Eine Stadt voller verschwundener Kinder nach denen keiner fragt, das ist eine politische Bankrotterklärung.

Ein kurzer (persönlicher) Rückblick auf die Situation von UMF in NÖ in den letzten 10 Jahren

2014 erzählte mir ein damals 13jähriger von seiner Zeit in einem Quartier für Erwachsene, wo einzig die Köchin die Bezugsperson für die dort untergebrachten Jugendlichen war. Geschützen Raum für die Jugendlichen gab es nicht. Die 12malige (!) Verlegung in verschiedene Quartiere innerhalb von NÖ trug auch nicht zur Stabilität des Minderjährigen bei. Und das war kein Einzelfall. Ein 15jähriger verlor nach einem Krankenhausaufenthalt seinen Schulplatz, niemand schien das zu stören. Der absolute Tiefpunkt war die Affäre „Drasenhofen“, als Ende 2018 16 UMF ohne richterlichen Beschluss in ein völlig ungeeignetes Quartier hinter Stacheldraht weggesperrt wurden. Im nachfolgenden Prozess gegen den eh.LR Waldhäusl (FPÖ) wegen Amtsmissbrauch, in dem er ebenso wie die Zweitangeklagte freigesprochen wurde, zeigte sich der politische Einfluss auf die Lebenssituation einer vulnerablen Gruppe, die bestmögliche Betreuung braucht und nicht politische Instrumentalisierung durch ein parteipolitisch gefärbtes System.

Vor allem das Gefühl der Orientierungslosigkeit, der Einsamkeit und Ablehnung in der ersten Zeit nach ihrem Ankommen in Österreich hatten viele (heute ehemalige) UMF in Österreich gemeinsam.

Es gab hervorragende Konzepte zur Betreuung und Unterstützung von allein geflüchteten Jugendlichen von verschiedensten Organisationen, die dem politischen (Un)willen zum Opfer fielen.

Gleichzeitig erlebten wir eine große Welle des zivilgesellschaftlichen Engagements, besonders für jugendliche Geflüchtete. Patenschaften wurden übernommen, andere wurden von Freiwilligen unterstützt oder sogar in die Familie aufgenommen oder. Die Zivilgesellschaft hat in dieser Zeit unschätzbar viel geleistet.

Seither hat sich viel geändert, aber geändert zum Guten?

Eine parlamentarische Abfrage[2] ergab, mit Stichtag 1. Jänner 2023 befanden sich 1.124 unbegleitete minderjährige Fremde (UMF) in Bundesbetreuungseinrichtungen (BBE), die meisten in Traiskirchen (BBE Ost), Herkunftsländer sind v.a. Syrien und Afghanistan, also aus Ländern mit hoher Schutzanerkennung.

738 dieser UMF war bereits zum Verfahren zugelassen, trotzdem waren sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht in adäquaten Unterkünften der Bundesländer betreuet.

1 Jahr später, am 01.Jänner 2024, befanden sich 545 UMF in Bundesbetreuung. Auch hier waren die Hauptherkunftsländer Syrien und Afghanistan. 455 waren bereits zum Asylverfahren zugelassen, davon verfügten acht UMF über den Status des Asylberechtigten. Das bedeutet, dass Jugendliche, die bereits einen positiven Asylstatus haben, noch immer in Bundesbetreuung, also in Massenquartieren leben, ohne Ausbildungsmöglichkeit, ohne Bildungschancen, ohne entsprechende Betreuung. Obwohl sich die Zahl der schutzsuchenden Kinder und Jugendlichen zw. 2023 und2024 halbiert hat, schafft es Österreich nicht, sie mit der Zulassung zum Verfahren durch die Bundesländer zu übernehmen und entsprechend zu betreuen. Wir sprechen von gerade mal etwas mehr als 500 Jugendlichen!

Aktion „Obsorge jetzt!“

Im Koalitionsabkommen der ÖVP/Grüne-Regierung einigte man sich darauf, Obsorge ab der Einreise nach Österreich umzusetzen. Ein Gesetzesvorschlag liegt seit 1,5 Jahren im Justizministerium, die Bundesländer jedoch verweigerten ihre Zustimmung. Österreich ist also weiter bei diesem Thema in Europa „Schlusslicht“ und bricht die UN-Kinderrechtskonvention.

Um die Kindern und Jugendlichen über ihre Rechte auf Obsorge aufzuklären und ihnen die Möglichkeit zu geben einen Antrag zu stellen schlossen sich unter „Gemeinsam für Kinderrechte“ 14 Organisationen[3] für das Projekt Obsorge jetzt! Zusammen. Die Plattform will den Kindern und Jugendlichen das ermöglichen, was ihnen die Politik vorenthält:  Ihnen, entsprechend ihren Bedürfnissen, einen Erwachsenen zur Seite stellen.

Während der Aktionswochen waren geschulte Mitarbeiter:innen vor den BBU-Einrichtungen anwesend, um die unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden bei der Antragstellung zu beraten und zu unterstützen. Nach der Antragstellung wurden die Kinder und Jugendlichen im Obsorgeverfahren rechtlich begleitet.

In allen Gesprächen, die mit Jugendlichen, Kindern und „Remu-Elten“ geführt wurden, wurde klar ersichtlich, die Information und die Möglichkeit um Obsorge anzusuchen, wird den Kindern und Jugendlichen vorenthalten.

Bezirkshauptmannschaften, Bezirksgerichte dürfen sich nicht aus der Verantwortung stehlen und Kindern auf der Flucht ihr Recht vorenthalten.

Das Problem der mangelnden Betreuung und der fehlenden Obsorge von Kindern und Jugendlichen in der Grundversorgung ist ein politisches Problem. Es ist unverständlich, warum es dafür noch immer keine Lösung gibt. Lösungen muss man wollen. Eine Obsorge-Lösung ab Ankunft in Österreich für alle Kinder schaffen zu wollen steht nun seit vier Jahren im Regierungsprogramm“, so Wolfgang Salm von fairness-asyl.

Allein geflüchtete Kinder und Jugendliche brauchen Stabilität, Orientierung und Unterstützung von Anfang an, die Betreuung während der Grundversorgung  muss endlich an die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen angepasst werden, diese Kinder gehören zu  unserer Zukunft. „Jedes Kind hat dieselben Rechte, unabhängig von seiner Herkunft“, kritisiert Shoura Hashemi, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich. „Die in der Verfassung verankerten Kinderrechte differenzieren nicht nach dem Geburtsort des Kindes. Alle Kinder, die von ihren Familien getrennt sind, haben Anspruch auf besonderen Schutz und Unterstützung!“


[1] https://unicef.at/kinderrechte-oesterreich/kinderrechte/

[2] https://www.parlament.gv.at/dokument/XXVII/AB/17169/imfname_1620681.pdf

[3] amnesty international, asylkoordination österreich, Caritas, Concordia Sozialprojekte, Diakonie, Don Bosco Sozialwerk, fairness-asyl, Integrationshaus, Kinderfreunde, Netzwerk Kinderrechte, Österreichische Liga für Menschenrechte, SOS Kinderdorf, SOS Mitmensch, tralalobe

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