Obsorge jetzt!

Oktober 2023 vor dem Erstaufnahmezentrum Traiskirchen:

Hamid, 16, und sein Freund Alireza, 17, stehen vor einem Infostand, auf Plakaten und Bannern steht groß „Gemeinsam für Kinderrechte“. Sie schauen sich interessiert ein kurzes Video an, in dem ihnen der Begriff „Obsorge“ auf Farsi erklärt wird. Hamid und Alireza haben viele Fragen dazu, ein Dolmetsch hilft am Telefon und räumt einige Zweifel aus. Schließlich sind beide bereit, dass sie zur Rechtsberatung in der Diakonie Beratungsstelle Traiskirchen begleitet werden, wo sie nach einer ausführlichen Rechtsberatung ihren Obsorge-Antrag stellen können.

Gleich danach kommt ein sog. „Remu“-Papa mit 4 Buben zwischen 10 und13 Jahren. Er hat die Plakate und Flyer über die Aktion gelesen und möchte sich dafür einsetzen, dass „seine“ Schützlinge den Obsorge Antrag stellen können. Auch hier bekommen die Kinder die Gelegenheit nach ausführlicher Beratung den Obsorge-Antrag zu stellen

Jedes Kind in Österreich ist bis zu seinem 18. Geburtstag unter der Obsorge eines oder einer Erwachsenen.

Aber wer ist für Kinder und Jugendliche, die ohne ihre Eltern auf der Flucht sind verantwortlich? Wer übernimmt die Aufgabe der Obsorge in Österreich? Und was bedeutet „Obsorge“?

Schauen wir uns die Definition/Bedeutung von Obsorge an:

Als Obsorge bezeichnet man die elterlichen Rechte und Pflichten gegenüber minderjährigen Kindern (bis zum 18. Geburtstag). Sie umfasst die Pflege und Erziehung, die Vermögensverwaltung sowie die entsprechende gesetzliche Vertretung.

Zur Obsorge gehören unter anderem:

Die Sicherstellung des körperlichen Wohls und der Gesundheit, der Erziehung sowie Förderung und Ausbildung.

Die Realität für allein geflüchtete Kinder und Jugendliche in Österreich ist in Wahrheit skandalös. Nach oft lebensgefährlicher Flucht kommen sie allein in ein fremdes Land, in dem sie Schutz suchen. Gerade jetzt würden sie von Tag 1 an ein stabiles Umfeld, Information, Bildung und altersgerechte Betreuung brauchen. Doch so lange sie in einem der Erstaufnahmezentren des Bundes leben ist niemand für sie verantwortlich, sie sind mehr oder weniger auf sich allein gestellt. Niemand kümmert sich um Pflege und Erziehung, was nicht nur verlorene Lebenszeit und große Unsicherheit für die Jugendlichen bedeutet, sondern sie auch einer großen Gefahr von Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch aussetzt.

Wie kann es sein, dass für Kinder und Jugendliche, die ohne ihre Eltern auf der Flucht sind, niemand verantwortlich ist?

Kommen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Österreich, ist erst einmal niemand zuständig. So wie Erwachsene werden sie zunächst in Unterkünften des Bundes untergebracht, zb.die Betreuungsstelle Ost in Traiskirchen.

Doch Kinder- und Jugendhilfe ist Ländersache. Das bedeutet, dass junge allein reisende Geflüchtete fürs Erste ohne Obsorge bleiben.

In der Theorie sollte die Unterbringung in Einrichtungen der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) nur eine Übergangslösung sein. Sobald sie zum Asylverfahren zugelassen wird, fallen die Jugendlichen in den Zuständigkeitsbereich der Länder und sollten in ein Landesquartier überstellt werden. Für Minderjährige bedeutet das außerdem, dass nun das jeweilige Jugendamt die Obsorge übernehmen kann.
Soweit die Theorie. In der Praxis ist so, dass die Jugendlichen oft monatelang in einer der Bundebetreuungseinrichtung untergebracht sind, wo sie keinen Zugang zu kindgerechter Betreuung, Information und Bildung erhalten.

Warum gibt es keine Obsorge in Bundeseinrichtungen? Warum bleiben Kinder und Jugendliche oft monatelang in Traiskirchen, Reichenau, Korbneuburg oder anderen Erstaufnahmezentren?

Zum einen scheitert es an zu wenig Plätzen in Betreuungseinrichtungen der Bundesländer, zum anderen auch an den bereit gestellten Mitteln. Die Kapazitäten zur Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in den Bundesländern sind begrenzt, was auch an der fehlenden Finanzierung liegt. Die Tagsätze zur Unterbringung wurden trotz Inflation, gestiegenen Energie- und Lohnkosten seit 2016 nicht erhöht und sind deutlich weniger, als für ein österreichisches Kind, das nicht bei seinen Eltern leben kann.

Auf der Strecke bleiben jedoch die Kinder, die in Österreich nicht bestmöglich betreut und

geschützt sind.

Fast 12.000 Kinder und Jugendliche, die in Österreich einen Asylantrag stellten, verschwanden letztes Jahr. Eine unfassbare Zahl! Das Prozedere sieht vor, dass bei unter 14 Jährigen eine Vermisstenanzeige bei der Polizei gemacht wird, bei allen anderen Jugendlichen wird eine Meldung an die zuständige BH gemacht. Weiter passiert nichts, niemand fragte nach, niemand kümmert ernsthaft wo sie sind, ob sie noch leben. Eine Stadt voller Kinder, die uns egal ist, das ist eine politische Bankrotterklärung.

Was tut die Politik?

Im Koalitionsabkommen der Regierung Övp/Grüne einigte man sich darauf, Obsorge ab der Einreise nach Österreich umzusetzen. Ein Gesetzesvorschlag liegt seit 1, 5 Jahren im Justizministerium auf, die Bundesländer jedoch verweigerten ihre Zustimmung.

Österreich ist also weiter bei diesem Thema in Europa „Schlusslicht“ und bricht die UN-Kinderrechtskonvention.

Aktionswochen  „Obsorge jetzt!“

Um die Kindern und Jugendlichen über ihre Rechte auf Obsorge aufzuklären und ihnen die Möglichkeit zu geben einen Antrag zu stellen schlossen sich unter „Gemeinsam für Kinderrechte“ namhafte Organisationen für das Projekt „Obsorge jetzt“! zusammen:

amnesty international, asylkoordination Österreich, Caritas, Concordia Sozialprojekte, Diakonie, Don Bosco Sozialwerk, fairness-asyl, Integrationshaus, Kinderfreunde, Netzwerk Kinderrechte, Österreichische Liga für Menschenrechte, SOS Kinderdorf, SOS Mitmensch, tralalobe.

Was die Politik den Kindern und Jugendlichen vorenthält, ihnen entsprechend ihren Bedürfnissen einen Erwachsenen zur Seite zu stellen, will diese Plattform ermöglichen.

Um eine Übertragung der Obsorge an die Kinder- und Jugendhilfeträger für minderjährige Asylsuchenden in den Bundesbetreuungseinrichtungen zu erwirken, wurden in der Woche vom 19.6.2023 – 24.6.2023 während einer ersten Aktionswoche Obsorgeanträge für unbegleitete geflüchtete Kinder gestellt.

Während der Aktionswoche waren geschulte Mitarbeiter:innen vor den Bundesbetreuungseinrichtungen in Mariabrunn und Korneuburg anwesend, um die unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden bei der Antragstellung zu beraten und zu unterstützen. Nach der Antragstellung wurden die Kinder und Jugendlichen im Obsorgeverfahren rechtlich begleitet.

Eine weitere Aktion fand im Oktober am Standort BBE Traiskirchen statt.

Besonders in Traiskirchen zeigte sich ein eklatanter Mangel an Information bei den unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten über ihr Recht auf Obsorge.

Erste Erfolge

Auf Wunsch von fast 30 ohne Eltern geflüchteten Minderjährigen haben die Rechtsberater:innen der Menschenrechtsorganisationen Obsorge-Anträge bei den Gerichten in Korneuburg und in Wien (Penzing) eingebracht. Die Wiener Anträge wurden binnen kurzer Frist ohne weitere Gerichtsverhandlungen positiv entschieden, und die betreffenden Kinder wurden den Behörden in Wien (MA11) in Obsorge gegeben. Die Anträge aus Korneuburg sind noch beim dortigen Familiengericht anhängig.

Die Situation von unbegleiteten geflüchteten Kindern

Über 80 unter 14-Jährige leben aktuell unbetreut in Traiskirchen

Dort leben aktuell nicht nur eine große Zahl unbegleitete Minderjährige, sondern auch über 80 unmündige (also unter 14jährige) Kinder, die ohne ihre Eltern oder andere Verwandte in Österreich gelandet sind. „Die Kinder sind unzureichend betreut und werden der Verwahrlosung preisgegeben“, kritisiert Christoph Riedl, Kinderschutzbeauftragter und Asylexperte der Diakonie.

Anstatt den Kindern eine Obsorge berechtigte Person zur Seite zu stellen, werden von der Bezirksbehörde sogenannte „Remuneranten-Eltern“, die im Lager Traiskirchen wohnen, beauftragt sich für 2,50 Euro pro Stunde um die Kinder unter 14 Jahren zu kümmern. Diese „Remu-Eltern“ sind erwachsene Asylwerber:innen, die meist selbst unter traumatischen Fluchterfahrungen leiden und jeden Tag in eine andere Unterkunft verlegt werden können.

„Was die Kinder eigentlich brauchen würden, ist Stabilität, denn für sie ist jeder weitere Beziehungsabbruch eine weitere schwere psychische Belastung. Es gibt keine rechtliche und auch sonst keine vernünftige Erklärung warum unmündige Kinder nicht automatisch und vom ersten Tag in die Obhut der Kinder und Jugendhilfe genommen werden“, so Elisabeth Schaffelhofer-Garcia Marquez vom Netzwerk Kinderrechte.

„Es ist unverständlich, warum es dafür noch immer keine Lösung gibt. Lösungen muss man wollen. Eine Obsorge-Lösung ab Ankunft in Österreich für alle Kinder schaffen zu wollen steht nun seit vier Jahren im Regierungsprogramm“, so Wolfgang Salm von fairness-asyl.

„Jedes Kind hat dieselben Rechte, unabhängig von seiner Herkunft. Die in der Verfassung verankerten Kinderrechte differenzieren nicht nach dem Geburtsort des Kindes. Alle Kinder, die von ihren Familien getrennt sind, haben Anspruch auf besonderen Schutz und Unterstützung!“, unterstreicht auch Shoura Hashemi, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich. 

Ausblick und weitere Planung

In allen Gesprächen, die mit Jugendlichen, Kindern und sog. Remu-Elten geführt wurde, wurde klar ersichtlich, die Information und die Möglichkeit um Obsorge anzusuchen, wird den Kindern und Jugendlichen vorenthalten, das ist ein Skandal!

Bezirkshauptmannschaften, Bezirksgerichte dürfen sich nicht aus der Verantwortung stehlen und Kindern auf der Flucht ihr Recht vorenthalten. Wir werden sehen, wie die BH Baden mit den eingebrachten Obsorgeanträgen umgeht, ob sie ihre Arbeit ernst nimmt.

Weitere Aktionen sind in Planung, bis endlich Obsorge für alle Kinder und Jugendlichen in Österreich selbstverständlich ist.

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