In der UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 ist auf Seite 127f zu lesen:
UNHCR stellt fest, dass Zivilisten, die in Kabul tagtäglich ihren wirtschaftlichen oder sozialen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer der allgegenwärtigen in der Stadt bestehenden Gefahr zu werden. Zu solchen Aktivitäten zählen etwa der Weg zur Arbeit und zurück, die Fahrt in Krankenhäuser und Kliniken oder der Weg zur Schule. Ebenso den Lebensunterhalt betreffende Aktivitäten, die auf den Straßen der Stadt stattfinden, wie Straßenverkäufe, sowie der Weg zum Markt, in die Moschee oder an andere Orte, an denen viele Menschen zusammentreffen.
Diese Richtlinien wurden während des Frühjahrs und Sommers 2018 sehnlichst erwartet, da sich die Sicherheitslage in Afghanistan zunehmend verschlechtert hat und außerdem eine Dürre den Westen und Norden des Landes heimgesucht hat. Die Hoffnung war, dass die UNHCR mit den neuen Richtlinien eine Abschiebung nach Afghanistan de-facto unterbinden würde.
Mit der Veröffentlichung Ende August 2018 war die Enttäuschung groß. Eine signifikante Änderung war allerdings der Hinweis der UNHCR, dass Kabul als interne Fluchtalternative nicht mehr in Betracht zu ziehen ist.
Auf Seite 129 ist zu lesen:
UNHCR ist der Auffassung, dass angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist.
Asylwerber, freiwilligen Helfer, Rechtsberater, Asylanwälte und Richter haben auf die Veröffentlichung gespannt gewartet. Die Gerüchteküche war im Frühjahr und Sommer 2018 heiß und es gab die Hoffnung, dass die Richtlinien mit einer internen Fluchtalternative in Afghanistan Schluss machen würden. Dennoch hat sich in der Spruchpraxis des BfA und des BVwG nicht viel getan. Kabul als interne Fluchtalternative wurde immer wieder gegen Mazar-e-Sharif und Herat ausgetauscht und aufenthaltsbeendenden Maßnahmen stand auch weiterhin nichts im Wege.
Einige Richter zogen es allerdings vor, auf die Aktualisierung gänzlich zu verzichten und haben auch weiterhin die Richtlinien aus dem Jahr 2016 zitiert und die vom August 2018 erst gar nicht erwähnt.
Dass die neuen Richtlinien nicht verwendet wurden hat sogar der VwGH im Dezember 2018 kritisiert (Ra 2018/18/0533, 13.12.2018), und zwar an einem Erkenntnis, das am 03.09.2018, also erst vier Tage nach der Veröffentlichung der Richtlinien, herausgekommen ist!
So auch das Erkenntnis des VfGH 3870/2018 vom 30.11.2018, welches ebenso auf die UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018 Bezug nimmt und – auf das Wesentliche zusammengefasst – vom BVwG eine Auseinandersetzung mit den aktuellsten UNHCR-Richtlinien verlangt.
Folgende Grafik zeigt auf, wie nötig die Höchstgerichtsentscheidung vom Dezember war. Sie zeigt wie oft die Richtlinien in den letzten Monaten verwendet wurden, getrennt nach den Richtlinien 2016 und 2018. Man erkennt ganz klar, dass auch im Q4/2018 die Richtlinie aus dem Jahr 2016 überwiegend zum Einsatz gekommen ist.
Bemerkenswert: Bei über 304Erkenntnissen wurden zwar die Richtlinien von 2016 erwähnt, aber die Aktualisierungen von 2018 ignoriert.
Sorry, aber das geht gar nicht!
Der Verwaltungsgerichtshof wies im Erkenntnis vom 13.12.2018, Ra 2018/18/0533 erneut auf seine ständige Rechtsprechung hin, wonach den UNHCR-Richtlinien besondere Beachtung zu schenken ist („Indizwirkung“; vgl. etwa VwGH 10.12.2014, Ra 2014/18/0103-0106 und 22.9.2017
Ra 2017/18/0166, jeweils mit weiteren Nachweisen). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden in Bindung an entsprechende Empfehlungen des UNHCR internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) sich mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind (vgl.dazu etwa VwGH16.12.2010, 2006/01/0788, mwN).
21) Die Verpflichtung zur Auseinandersetzung mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR findet sich auch im einschlägigen Unionsrecht:
22) Art.10 Abs.3lit.b der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) sieht es als Pflicht der Mitgliedstaaten an zu gewährleisten, dass die Asylbehörde ihre Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz nach angemessener Prüfung trifft. Zu diesem Zweck hätten die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass genaue und aktuelle Informationen aus verschiedenen Quellen, wie etwa EASO und UNHCR sowie einschlägigen internationalen Menschenrechtsorganisationen, eingeholt werden, die Aufschluss geben über die allgemeine Lage in den Herkunftsstaaten der Antragsteller.
23) Speziell im Zusammenhang mit der Prüfung des internen Schutzes im Sinne von Art.8 Abs.1 der Richtlinie2011/95/EU (Statusrichtlinie) ordnet Art.8 Abs.2 dieser Richtlinie an, die Mitgliedstaaten hätten sicherzustellen, dass genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, eingeholt werden.
Hier jene Erkenntnisse, die mit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme in 2. Instanz geendet haben und wo auf die UNHCR Richtlinien überhaupt verzichtet wurden.
* Die Erkenntnisse stammen aus der RIS Datenbank. Einschränkung auf Staatsangehörigkeit "Afghanistan" und "Erkenntnisse". Zur Ermittlung der zitierten Richtlinien wurden die Bereiche "Beweiswürdigung" und "Rechtliche Beurteilung" durchsucht, wobei zwar unterschiedliche Schreibweisen berücksichtigt wurden, es aber zu keiner 100%-igen Genauigkeit kommen kann. Die Analyse der Daten beschränkt sich auf die Suche nach Zeichenketten und macht keine inhaltliche Prüfung der Erkenntnisse.